Matrix-Strukturen und Betriebsverfassungsrecht – „Einstellung“ zwar „top-down“, aber nicht „bottom-up“?
Das Bundesarbeitsgericht hatte in der Entscheidung vom Sommer diesen Jahres (Bundesarbeitsgericht, Beschl. v. 26.05.2021 – 7 ABR 17/20) darüber zu entscheiden, ob Arbeitnehmer eines anderen Betriebs betriebsverfassungsrechtlich demjenigen Betrieb zuzurechnen sind, dem der Vorgesetzte mit der fachlichen Weisungsmacht gegenüber den Arbeitnehmern aus dem anderen Betrieb angehört.
Der besseren Verständlichkeit spreche ich im Weiteren von den Standorten Stuttgart und Hannover und nenne den Fachvorgesetzten „Volker“. Volker sitzt in Hannover, die seiner fachlichen Führung unterworfenen Arbeitnehmer in Stuttgart.
Vor rund zwei Jahren hatte das BAG noch entschieden (Bundesarbeitsgericht, Beschl. v. 22.10.2019 – 1 ABR 13/18), dass Volker aus Hannover als eingestellt gem. § 99 Abs. 1 BetrVG in den Betrieb in Stuttgart anzusehen ist. Denn dort säßen die ihm weisungsunterworfenen Arbeitnehmer und mit seinem Beitrag – Ausüben der fachlichen Weisung – würde Volker den arbeitstechnischen Zweck des Betriebs in Stuttgart fördern, all dies genüge für den Einstellungsbegriff gem. § 99 Abs. 1 BetrVG. Dass Volker seine fachliche Weisungsmacht von einem anderen Standort aus „lebe“, oder gar von einer anderen Legaleinheit aus geschieht, steht dem nicht entgegen.
Diese auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Vorstellung, wonach jemand betriebszugehörig zu einem (deutschen) Betrieb ist, der äußerstenfalls von einem anderen Unternehmen auf der anderen Seite der Weltkugel aus agiert, hat sich zwischenzeitlich weitgehend gesetzt.
Bedeutung hat diese Rechtsfrage auch für die im Frühjahr 2022 anstehenden Betriebsratswahlen und zwar hinsichtlich des Wahlrechts, sowohl aktiv, wie auch passiv. Trivial ist dies in der konkreten Umsetzung nicht, steht doch der Wahlausschuss u.a. vor der großen Herausforderung, zu prüfen, ob die „Volkers der Welt“ Leitende Angestellt sind, oder nicht. Denn wenn Volker ein „echter“ Leitender Angestellter ist, dann ist er für die beteiligten Betriebsräte sozusagen betriebsverfassungsrechtlich außen vor. Natürlich kann die Frage „Leitender Angestellter – Ja/Nein“ auch außerhalb von Betriebsratswahlen im Rahmen eines sogen. Statusverfahrens geprüft werden. Volker ist dabei übrigens – zwingend – Beteiligter des Feststellungsverfahrens. Für manch einen Wahlvorstand wird diese Frage mit besonderem Augenmerk betrachtet werden, wenn es z.B. um Schwellenwerte im BetrVG geht, so etwa bzgl. der Anzahl der Sitze im Betriebsratsgremium oder hinsichtlich Freistellungen.
Offen war bislang die Frage, ob die Arbeitnehmer aus Stuttgart als zugehörig zu dem Betrieb in Hannover anzusehen sind. Natürlich eine Fragestellung, die die beteiligten Betriebsratsgremien besonders tangiert, sowohl den Betriebsrat in Hannover, als auch den Betriebsrat in Stuttgart.
Das BAG stellte in der Entscheidung vom Sommer 21 zunächst auf den üblichen Betriebsbegriff ab. Zwar könnten Arbeitnehmer, die in standortübergreifenden Teams einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck verwirklichen, ggf. zu einem Betrieb zählen. Das BAG hat dabei offenbar aber einen einzigen Betrieb im Sinn.
Problematisch war allerdings die Frage der tatsächlichen Eingliederung der Arbeitnehmer in den Betrieb in Hannover. „Für die Eingliederung in einen Betrieb ist eine Bindung an die Weisungen einer Führungskraft in diesem Betrieb nicht erforderlich. Die Unterstellung eines in einem Betrieb tätigen Arbeitnehmers unter das fachliche Weisungsrecht eines in einem anderen Betrieb ansässigen Vorgesetzten führt nicht zur Ausgliederung des Arbeitnehmers aus seinem bisherigen Beschäftigungsbetrieb und zur Eingliederung in den Beschäftigungsbetrieb des Vorgesetzten“, so das BAG ausdrücklich. „Vielmehr liegt nach der Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts zur personellen Mitbestimmung in einem solchen Fall eine Einstellung iSv. § 99 BetrVG und damit eine Eingliederung des Vorgesetzten in den Betrieb der ihm unterstellten Arbeitnehmer vor, da durch die Wahrnehmung der Führungsaufgaben (auch) der arbeitstechnische Zweck des Betriebs verwirklicht wird, in dem die ihm unterstellten Mitarbeiter tätig sind.“ Je nachdem, in wie vielen Betrieben Volker Fachvorgesetzter ist, kann – jeweils(!) – vor Ort in dem Betrieb eine Einstellung gem. § 99 Abs. 1 BetrVG vorliegen mit dem für Außenstehende kuriosen Ergebnis, dass es sich bei Volker zwar um eine einzige natürliche Person handelt, er aber bildhaft gesprochen bei identischem Lebenssachverhalt als mehrfach eingestellt (in mehreren Betrieben) anzusehen ist.
Im Ergebnis ist folglich der Betriebsrat Hannover, also derjenige Betrieb, in dem Volker beheimatet ist, nicht zuständig für die Volker „untergebenen“ Arbeitnehmer des Betriebs in Frankfurt.
So weit, so gut. Allerdings erscheint es Überdenkens wert, einerseits anzunehmen, Volker könne mehrfach eingestellt werden (= „top-down-Ansatz“), aber wie vom BAG in der dargestellten Entscheidung geschehen abzulehnen, dass jeweils von ihm fachlich angewiesenen Arbeitnehmer in „dem Volker-Betrieb“ gleichermaßen eingestellt werden können (= „bottom-up-Ansatz“ oder „Ausgliederung“ wie vom BAG formuliert). Insoweit hat das BAG zwar einem „Überkreuz-Einstellungs-Sachverhalt“ (iSv. Volker aus Hannover eingestellt in Frankfurt und die Arbeitnehmer aus Frankfurt eingestellt in Hannover) eine eindeutige Abweisung erteilt. Dieser Ansatz scheint gut zu ordnen im Sinne eines „top-down = ja“, aber kein „bottom-up“. Dem liegt die Annahme des BAG zugrunde, die Arbeitnehmer aus den „unteren“ Betrieben würden durch ein bloßes fachliches Angewiesen werden durch Volker den arbeitstechnischen Zweck des „Volker-Betriebs“ (Hannover) nicht fördern, sondern Volker fördere den arbeitstechnischen Zweck desjenigen Betriebs, von dem aus die ihm fachlich unterworfenen Arbeitnehmer tätig sind. Zwingend erscheint dies aus meiner Sicht aber keineswegs. Denn vielleicht liegt die Besonderheit von gelebten Matrix-Strukturen auch gerade darin, dass die einer Matrix-Struktur innewohnenden „Spreizung“ (einerseits fachliche Führung, andererseits disziplinarische Führung) betriebsverfassungsrechtlich auch bewirken kann, in dem Leben einer fachlichen Führung einen eigenen Teilbereich des arbeitstechnischen Zwecks des „Volker-Betriebs“ in Hannover zu sehen, getreu dem Motto: „Was ist ein König ohne Volk?“ Kann das Volk nicht im „Sprech“ des BAG „ausgegliedert“ werden in den Königs-Betrieb von Volker, jedenfalls solange der König „fachliche Weisungen“ von Hannover ausgehend ausspricht? Hierbei offenbart sich eine etwas altertümlich wirkende Annahme des BAG in Richtung eines „Einmal Betriebsangehörig = immer Betriebsangehörig“ bzgl. der Mitwirkung an der Verwirklichung eines arbeitstechnischen Zwecks. Für die Frage der „richtigen“ Betriebszugehörigkeit scheint es lt. BAG nicht schädlich zu sein, dass die fachliche Führung außerhalb des Betriebs angesiedelt ist. Das ist schon ein Pfund, stellt doch die „personelle Leitungsmacht“ bislang einen bedeutsamen Anknüpfungspunkt dar. Die moderne Wirklichkeit, wie sie sich in Matrix-Strukturen oder auch Agilen Arbeitsformen abspielt, offenbart aber bei Lichte betrachtet, dass das Mitwirken an der Verwirklichung arbeitstechnischer Zwecke seitens der Arbeitnehmer durchaus auch zu Zugehörigkeiten zu mehreren Betrieben führen kann. Warum sollte dies nicht möglich sein: Etwa einmal eingestellt gem. § 99 BetrVG im Betrieb der disziplinarischen Führung und ein zweites Mal eingestellt gem. § 99 BetrVG in dem Betrieb der fachlichen Führungskraft. Dies erscheint m.E. nicht exotischer als anzunehmen, Arbeitnehmer aus Frankfurt würden den arbeitstechnischen Zweck des Frankfurter Betriebs fördern, obwohl und trotzdem Volker als Fachvorgesetzter im Betrieb Hannover sitzt.
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